Handke und die Gravitationstheorie

Kennen Sie Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung”? Ich habe das Stück sehr genossen, fand es ebenso geistreich wie kurzweilig. Es hat mir nichts ausgemacht, über eine Stunde lang beschimpft zu werden. Eines fasziniert mich daran ganz besonders: Das Stück hat einen Bezug zur wissenschaftlichen Beschreibung des Phänomens der Schwerkraft, und zwar zum für mich interessantesten Aspekt der Theorie.

Die Schwerkraft wird durch die Relativitätstheorie beschrieben. Einsteins große Theorie ist so sehr fixer Bestandteil der Populärkultur geworden, dass jeder das Konterfai des Schweizer Physikers, die Formel E=mc² und das Konzept des Schwarzen Lochs kennt. Besonders schön wurden Schwarze Löcher und die mit ihnen verbundenen Effekte in Christopher Nolans Film Interstellar gezeigt. Mich haben in den letzten Jahren aber vor allem reale Forschungsarbeiten im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie beeindruckt.

Von dem Phänomen, das mich am meisten begeistert hat, haben Sie bestimmt gehört: Gravitationswellen. Vor ein paar Jahren gelang mit den Detektoren LIGO und VIRGO erstmals der Nachweis dieses mystischen Phänomens. Inzwischen werden in diesen Detektoren regelmäßig Gravitationswellen gemessen. Fachleute schwärmen, dass ein neues Fenster für die Astronomie aufgegangen ist, und das ist natürlich richtig. Wir werden auf diesem Weg viele neue Dinge über das Universum lernen. Mich persönlich fasziniert aber am meisten das Phänomen der Gravitationswellen selbst.

Warum es Gravitationswellen geben muss, ist nicht schwer zu erklären. Wir wissen aus der Schule, dass nichts schneller als Lichtgeschwindigkeit übertragen werden kann. Wenn etwa ein Astronaut auf dem Mond winkt, sehen wir das erst zwei Sekunden später. So lange braucht das Licht, bis es uns erreicht. Falls die Sonne einmal einen Moment ausgehen sollte, würden wir das erst sieben Minuten später merken. Sieben Minuten – das finde ich ganz beachtlich lang! Was wäre nun, wenn die Sonne nicht flackern würde (das ist natürlich unmöglich, es geht hier nur um die Idee), sondern spontan ihre Position ändern? Es hätte Auswirkungen auf die Gezeiten und wir würden auch das nicht sofort merken, sondern sieben Minuten verzögert. Die Schwerkraft müsste sich quasi erst den Weg durch den Raum bahnen, und das bedeutet nichts anderes, als dass sie als Gravitationswelle zur Erde reisen würde.

So weit, so abstrakt. Aber es wird noch schöner: Wir kennen aus dem Alltag verschiedene Arten von Wellen. Wasserwellen sind sich ausbreitende Berge und Täler der Wasseroberfläche, Schallwellen sind veränderliche Druckverteilungen der Luft. Licht besteht aus schwingenden elektromagnetischen Feldern. Aber was schwingt eigentlich bei einer Gravitationswelle?

Schwerkraft ist von dem Medium, in dem sie lebt, nicht klar zu trennen. Sie ist nichts anderes als eine Krümmung des Raums selbst. Eine Gravitationswelle ist also eine Krümmung des Raums, die sich ausbreitet. Der Raum selbst schwingt, und diese Schwingung breitet sich im Raum aus.

Das bringt uns zurück zu Peter Handke. Seine Publikumsbeschimpfung ist unter anderem deshalb so faszinierend, weil sie die Trennung zwischen Bühne und Publikum, zwischen Stück und Realität aufhebt. Das Theater ist sowohl Rahmen, als auch Gegenstand des Stücks. So ähnlich ist es bei Gravitationswellen: Der leere Raum ist hier sowohl Bühne, als auch Akteur.

Und das ist noch immer nicht alles. Einstein konnte zeigen, dass jedwede Energie auch Masse besitzt. Eine Gravitationswelle transportiert, wie jede physikalische Welle, Energie. Das bedeutet, dass sie selbst Masse besitzt und als bewegte Masse wieder Gravitationswellen erzeugt. In der Physik nennt man so ein Verhalten „nichtlinear”, und das macht seine Berechnung äußerst schwierig.

Für mich macht das dieses Verhalten die Faszination der Relativitätstheorie aus. In der reinen Mathematik gibt es ebenfalls Konstrukte, in denen eigentlich getrennte Ebenen miteinander verwoben werden, etwa in der mathematischen Logik, wo die Mathematik auf sich selbst angewandt wird, um herauszufinden, ob alle wahren Aussagen beweisbar sind oder nicht. Für mich gibt es nichts Ästhetischeres. Auch in der Literatur faszinieren mich Geschichten, die Bezüge zwischen unterschiedlichen Ebenen von Geschichte, Außenwelt und Publikum überschreiten. Ich selbst habe eine solche Geschichte in den lichtungen veröffentlicht. Auf diesem Weg lassen sich Geschichten radikal auf das Wesentliche reduzieren – wenn sie nicht von äußeren Gegenständen handeln, sondern von sich selbst und dem Autor. Handke erinnert mich an die Logiker, die nur ein einziges fiktives Objekt brauchen – eine leere Menge –, um daraus die gesamte Mathematik zu konstruieren. Handke und das Theater genügen sich selbst, wie der Raum, der sich mit seinen eigenen Wellen bevölkert. Der Nobepreisträger Gerard ‚t Hooft versucht sogar zu zeigen, dass die Welt wirklich nur aus solchen Gravitationsphänomenen besteht, wie er mir vor einigen Jahren in einem Interview verraten hat.

Aus diesen Gründen bin ich ein großer Fan der Schwerkraft. Nur eines weiß ich nicht mehr mit Sicherheit: Ob es Handke war, der mich auf die Schönheit der Relativitätstheorie aufmerksam gemacht hat, oder umgekehrt.

Hier noch zwei Artikel über Phänomene der Schwerkraft, die ich in letzter Zeit geschrieben habe. Und weiter unten der Artikel, den ich über Gerard ‚t Hooft geschrieben habe. Enjoy!

https://portal.mytum.de/pressestelle/faszination-forschung/2021nr26/02_Faszination_Forschung_26_21_Suyu_Gravitationslinsen_deutsch.pdf/download

https://www.diepresse.com/4924878/gravitationswellen-osterreicher-simulierten-schwarze-locher?utm_source=recommender&utm_medium=Packages

https://www.diepresse.com/544517/physik-schwarze-locher-fur-das-vollstandige-bild?from=suche.intern.portal